„Manifest der Guten Organisation“ in Behörden und Betrieben

Offener Brief an die RBB-Journalistin Katja Weber

 

Liebe Katja,

Du fragst, worauf eine Organisationsverbesserung im Berliner Lageso und in anderen Behörden ausgerichtet sein sollte. Je enger sich die Verantwortlichen und vor allem ihre Berater an den folgenden TOP 5 guter, also menschengerechter Organisation orientieren, desto erfolgreicher werden sie sein – erfolgreicher im Sinne von nachhaltigen Lösungen, nicht im Sinne von Folgeaufträgen. Aber bereits aus diesem ökonomischen Dilemma, nicht nur aus Unkenntnis der TOP 5, erwachsen zwanglos inadäquate Optimierungsvorschläge (Beispiel Matrixorganisation), die wegen der einge­bauten Konfliktlinien die dauerhafte Einbindung der Berater sichern. Deswegen haben die TOP 5 der Guten Organisation eine ziemlich überschaubare Lobby:

    1. Aufbauorganisation: Überschaubare Gruppengröße / „Führungsspanne“ von 1 : 7 (+/-2). Nur dann haben Führungskräfte eine Chance, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter kontinuierlich im Blick zu behalten und individuell zu fördern
      1. Bei den meist viel zu großen Führungsspannen in heutigen Organisationen bilden sich gesetzmäßig Subgruppen („Cliquenwirtschaft“) mit jeweils informellen Leitern, die im Zweifel andere als die betrieblich erwünschten Ziele verfolgen. Zu große Führungsspannen gehen regelmäßig einher mit hohen Krankenständen und geringen Qualitätsstandards in der Tätigkeitsausführung. 
      2. Problem nur: Die Betriebswirte und insbesondere die großen Unternehmens­beratungen können viel besser die (Personal-)Kosten der Führungsebenen beziffern, als die Kosten unterlassener Führung. Deswegen propagieren sie seit Jahrzehnten unter dem Stichwort „lean management“ das Ausdünnen und Eliminieren der mittleren Führungsebenen. Die damit sofort an anderer Stelle entstehenden Folgekosten (siehe a.) treten eher mittelbar und verdeckt auf. 
      3. Da gerade Behörden (im Gegensatz zu inhabergeführten Unternehmen) stark beraterdurchsetzt sind, treten Effizienzreserven schon allein deswegen dort am häufigsten auf. Da ist es natürlich paradox, wenn die großen Beratungen nun das Gegengift zu den von ihnen zunächst vorgeschlagenen Organisations­modellen nachliefern sollen – allerdings meist nach dem Prinzip „mehr desselben“.
      4. In die gleiche Richtung wirkt der Ringelmann-Effekt („soziales Faulenzen“). Je größer das Team, umso mehr reduzieren wir Menschen intuitiv und unterbewusst den eigenen Einsatz für das gemeinsame Ziel.
    2. Versucht’s doch mal mit Führung. Mitunter liefern die Führungskräfte den Beratern aber auch selbst gute Gründe, ihre Entbehrlichkeit zu empfehlen – sie führen nicht oder nicht adäquat. Selten formulieren die Unternehmen und Behörden die Erwartungen an ihre Führungskräfte explizit und konkret handlungsleitend, welche
      1. Führungsaufgaben
      2. in welcher Form (Führungsstile)
      3. mit welchen Führungsinstrumenten (insb. regelmäßige Ma.-Gespräche und Teammeetings)
      verwirklicht werden sollen. Mitunter führt schlicht fehlende Kenntnis der Merkmale von ‚guter Führung‘ dazu, dass jede Führungskraft ihr eigenes Führungsverständnis mehr oder minder bewusst ausübt. Am bequemsten ist es dann oft, möglichst wenig zu führen; das reduziert (vermeintlich) Aufwand und Ärger – zumal der eigene Vorgesetzte weder vorlebt noch einfordert, was Mitarbeiterführung zu bedeuten hätte.
      Ohne Führung aber werden Mitarbeiter verdrießlich: Sie erhalten keine Informationen, tauschen sich nicht über best practice aus, erhalten keine Leitlinien zu Zielen und Wegen des Ausführens, kennen den Zusammenhang zwischen ihrer (Teil-)Tätigkeit und dem großen Ganzen kaum, hadern mit Entscheidungen, die sie brauchen, aber nicht getroffen werden, erhalten keine Wertschätzung oder Verbesserungshinweise zu ihrer Arbeit.
      Unsere Erfahrung: Je mehr es um Leistungsziele, Umsatz und Ertrag geht, umso wichtiger ist den Unternehmen eine gute Mitarbeiterführung. In Behörden ist das oft ein längerer, mittelfristiger Weg, da Führung meist nicht zur Behördenkultur gehört bzw. sogar diskreditiert/verpönt ist. Aber auch in Behörden arbeiten nun mal keine Zombies sondern Menschen, für die erlebbare Führung zu den Grundrechten auf ‚artgerechte Haltung im Betrieb‘ gehört.
    3. Schlanke Abläufe und saubere Schnittstellen: Mehrfachbearbeitung, überbordende Prüf- und Kontrollschleifen (um persönliche Risiken zu minimieren), lose Enden (nach unseren Untersuchungen wird ca. ein Drittel der Arbeitsergebnisse in Behörden nicht benötigt) sind Regel und nicht Ausnahme.
      1. Die Übergabepunkte (Schnittstellen) zwischen den Prozessschritten sind oft fehleranfällig: Vorarbeiten sind nicht vollständig ausgeführt, erforderliche Informationen stehen nicht zur Verfügung. Absprachen mit anderen Bereichen werden nicht eingehalten, Archivierungsregeln individuell ausgelegt. Die resultierenden Warte- und Suchprozesse haben für die Bearbeiter enormes Zermürbungspotenzial, Resignation macht sich breit.
      2. Gute Prozesse sind (auch in Behörden) stets an ihren geringen Varianzen, also einem hohen Standardisierungsgrad zu erkennen. Leider werden so gleichzeitig die persönlichen Freiheitsgrade der Bearbeiter beschnitten. Deswegen vermeiden es Leiter nach Möglichkeit, dieses heiße Eisen anzupacken. Die Folge: Fröhlicher Wildwuchs, mangelnde Vertretbarkeit im Abwesenheitsfall, langwierige Einarbeitung neuer Kollegen.
      3. Eine Sanierung kann hier extrem viel Potenzial freilegen, Prozesse drastisch beschleunigen und die üblichen Widerstände überwinden.
    4. Klare Verantwortlichkeiten (was soll ich tun) und Befugnisse (was darf ich tun).
      1. Verantwortlichkeiten: Unscharfe Tätigkeitsbeschreibungen lassen Verantwortlichkeiten verschwimmen. Für die meisten Tätigkeiten ist z.B. nicht definiert, wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen sollten – kaum jemand kennt das SOLL der Bearbeitungszeit, also sind Abweichungen im IST erst gar nicht zu erkennen. Deswegen wird der Antragsstau chronisch. Ein „Management von Lastspitzen“ existiert faktisch nie, ebenso keine expliziten Verantwortlichkeiten für das Abarbeiten der Staus. Die auch im europäischen Maßstab extrem langen Bearbeitungszeiten für Asylanträge gehen klar auf jahrelange Versäumnisse der Behördenleitung zurück, für a) das Routinegeschäft und b) Lastspitzen eine zeitnahe Bearbeitung zu organisieren. Offenbar hat niemand sie dafür verantwortlich gemacht – und sie sich selbst auch nicht. Stichwort OPM (Other People Money).
      2. Befugnisse: Die Entscheidungsbefugnisse sind in den meisten Behörden viel zu stark zentralisiert. Die Folge: Bottle necks, lange Wartezeiten, Unsicherheit, was man dezentral selbst entscheiden darf. Fatal: Mitarbeiter, die dann mit Eigeninitiative hervortreten, werden unsanft zurückgepfiffen. Dadurch lernt die Organisation, dass Eigeninitiative schadet; wer nichts tut, fährt am besten, der Unterlassungseffekt („omission bias“) blüht. Wenn dann in Not- und Extremsituationen (Lageso) Pionier­geist und Tatkraft gefragt sind, gibt es keinen mehr, der ins Risiko geht und ohne Absicherung handelt.
    5. Paradoxon Mitarbeiterzahl.
      1. Die oben beschriebenen organisatorischen Defizite gehen in der betrieblichen Praxis oft einher mit einer Überbesetzung mit Mitarbeitern. Leider: Je mehr Mitarbeiter tätig sind, umso langsamer werden die Prozesse. Die Arbeit wird als kompliziert und irgendwie nicht schaffbar erlebt – der Ruf nach weiteren Mitarbeitern wird laut; wird er erfüllt, verschärfen sich die Probleme. Die komplizierten, zergliederten und aufwendigen Abläufe sind sehr oft eine direkte Folge von zu großer Bearbeitungs­kapazität. Die erforderliche Personalreduktion klingt aber meist extrem kontraintuitiv und ist (in Behörden) auch gar nicht durchsetzbar.
      2. In der Sanierung wird es auch oft nicht anders gehen, als kurzfristig viele Bearbeitungskapazitäten anzuheuern, um den Bearbeitungsstau zügig abzubauen. Wenn dies aber nicht zeitlich befristet erfolgt, ist der Mitarbeiterzuwachs gleich wieder der Grundstein für die nächste Krise von übermorgen.

 

Die Merkmale guter Organisation treffen übrigens die Interessen sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer: In gut organisierten Bereichen, mit klaren Zuständigkeiten und Befugnissen, mit überschaubaren Gruppengrößen, erlebbarer Führung und schlanken Prozessen steigen die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter und die Kundenzufriedenheit der Bürger – gleichzeitig sinken die Prozesskosten (wenn man sie denn misst) für den Dienstherrn. Ihre Einrichtung und dauerhafte Aufrechterhaltung kosten aber kontinuierliche Mühe und erfordern Kenntnis – das reicht schon aus, um sie in vielen Fällen zu unbequem erscheinen zu lassen.


Liebe Katja, ich danke Dir sehr für Deine Anregung, aus dem Lageso-Desaster noch das Konstruktive filtern zu dürfen. Nun ist es ein Manifest der Guten Organisation geworden.

Herzliche Grüße
Heiko Sill, Dipl.-Psych.

 

Offener Brief als PDF